Bespucktes Kind

 

Meine Tochter ist noch kein Jahr alt, als ihre zehn Jahre alte Tante sie im Kinderwagen schiebt. Ich laufe wenige Meter hinter den beiden. Um uns herum wuseln Studenten Richtung Unigebäude. Plötzlich spuckt ein Mann mittleren Alters verachtungsvoll meiner kleinen Schwester im Vorbeigehen ins lange braune Haar und auf die linke Schulter. Während er spuckt schaut er mich provokant an, lächelt danach siegessicher.
Völlig schockiert und fassungslos dreht sich Leila zu mir um und unterdrückt ihre aufsteigenden Tränen.

Mein Adrenalinspiegel steigt ins Unermessliche und ich schaue dem Mann nach, doch er blickt nicht mehr zurück, sondern setzt seinen Weg Richtung Hauptbahnhof fort, als hätte er nichts getan.

"Bleib hier bei den Nachbarn und warte mit der Kleinen im Wagen! Den kralle ich mir!", sage ich zu meiner verstörten Schwester und nehme die Verfolgung auf. Ich zücke mein Handy, rufe meinen Stiefvater an, der ganz in der Nähe mit dem Rad ist, und gebe ihm kontinuierlich unseren Standpunkt durch.

Ungefähr hundertfünfzig Meter weiter kommt dieser aus der Gegenrichtung, lässt sein Fahrrad über den Boden schlittern und stellt sich voller Wut direkt von den Nazispucker: "Hey, du bleibst stehen, bis die Polizei hier ist! Meine Tochter wird nicht bespuckt!"
Der Typ ist total überrascht, da er nicht bemerkt hat, dass ich ihn verfolgt habe. Ich wähle die 110 und rufe ihm noch schnell zu: "Du bespuckst meine kleine Schwester nicht und kommst damit davon!"

Nun realisiert der Spucker, was passiert und wird aggressiv. Er versucht meinen Stiefvater zur Seite zu schubsen und zu fliehen, dieser aber gibt Widerstand und stößt ihn mit seiner Brust zurück. Während ich der Polizei über das Handy die Situation schildere und unseren Standort durchgebe schlägt der Nazi plötzlich meinem Stiefvater mit einer Faust ins Gesicht.

"Scheibe! Das eskaliert!", denke ich besorgt und sage der Polizei, dass sie sich beeilen sollen, da der Typ mittlerweile zuschlägt. Doch mein Stiefvater reagiert trotz all seiner Wut besonnen und stößt den Typen einfach wieder zurück, um eine Flucht zu verhindern. Nun entsteht ein Katzmausspiel. Die beiden Männer bewegen ich immer weiter von der Stelle weg. Die umstehenden Passanten schauen interessiert zu, keiner hilft den Nazi festzuhalten oder fragt wenigstens, was denn passiert sei.

Nach dem die beiden Männer nun schon mehr 200 Meter weiter "gelaufen" sind erscheint endlich ein älteres Polizistenpaar- zu Fuß. Gelangweilt schlendern sie auf mich zu und fragen mich in starkem sächsischen Akzent, ob ich die Polizei rief: "Ham Sie die Bolizeiii gerufn?"
Aufgeregt antworte ich und zeige Richtung Kino: "Ja, richtig. Der Täter versucht gerade zu fliehen. Mein Stiefvater folgt ihm, aber die Situation kann jeden Moment eskalieren. Sie sind da in die Richtung!"
Polizistin: "Joah, nu ma langsam. Nu erzähln Se erstma, was passiad is!"
Ich fasse es nicht und erzähle, wie der Nazi meine kleine Schwester anspuckte und es dann weiter ging.

In der Zwischenzeit kommt ein Polizeiauto mit zwei jungen Polizisten an, die sich zu uns gesellen und zuhören.
Tiefenentspannt oder gelangweilt (I don´t know) fragen die älteren die jüngeren Polizisten, ob sie zu Fuß den Täter stellen sollen, oder ob die jungen Leute lieber mit dem Auto fahren mögen.
Die Antwort des jungen Polizisten: "Nee, wir fahrn ma ebn. Geht schnella, denk ich ma."
Allein die junge Polizistin sagt noch fassungslos zu ihrem männlichen Kollegen: "Haste das gehört? Der Mann hat die Kleene bespuckt!"

Während die zwei Polizisten also mit dem Auto los düsen, um den Täter noch zu fassen, stehe ich nun mit dem älteren Polizistenpaar an Ort und Stelle und bitte: "Können wir bitte einmal die paar Meter zurück in den Park laufen, um die Kinder zu holen?"
Antwort: "Nee, das geht ni! Wiar müssn erstma Personalien offnehm. Geben Se miar ma Ihrn Perso!"
Ich: "Das können wir gerne machen, aber ich kann die Kinder nicht länger alleine lassen. Das sind doch nur ein paar Meter! Ich habe nicht vor wegzulaufen."
Polizistin: "Ham Se doch schon allene gelassn. Na gud, dann geh ma se halt holn."
Gesagt, getan. Kinder eingepackt und bei den Nachbarn fürs kurze Hüten gedankt.

Zurück am Ort kommt die Polizei mit dem Täter im Wagen und vernimmt ihn. Mein Stiefvater und zwei jugendliche angetrunkene Zeugen machen ihre Zeugenaussagen. Tatsächlich haben zwei Jugendliche das Gebrüll und Geschubse gesehen und eingegriffen. Sie halfen meinem Stiefvater den Täter bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten. Ich bin sehr dankbar.

Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir auf das Präsidium für rechte Straftaten eingeladen, die Zeugenaussagen meiner Schwester und von mir ausführlich aufgenommen und Speichelproben vom Shirt meiner Schwester genommen.

Zum Gerichtsprozess erscheint der Täter nicht. Er wird verurteilt. Alle im Gericht sind sehr nett mit uns, die Sicherheitsvorkehrungen vorbildlich.
Nur zwei Jahre zuvor wurde hier die schwangere Marwa El- Sherbiny, vor ihrem Mann und dem dreijährigen Sohn, von einem Nazi im Gerichtssaal niedergestochen.

RAA Sachsen e.V. liest von unserem Fall und unterstützt uns während des Prozesses.

Nachtrag: meine Mutter rief ich ebenfalls an. Sie ließ Zuhause alles stehen und liegen und eilte herbei, um den Typen auseinander zu nehmen. (Er wurde aber von der Polizei im Polizeiwagen geschützt. Feigling.) Obwohl meine Mutter und mein Stiefvater sich in dieser Zeit bereits in Scheidung befanden hielten sie zusammen, um meiner Schwester beizustehen und gegen den Nazi anzugehen.

🖋️ Namika- die Schreiberin

 

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